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April 2022

Denkmalgeschützter Wasserturm des ehem. Schwellenwerks in Kirchseeon, erbaut 1902/03, "Roter Turm"

Maulkorb vom Investor

Am Ende des 2. Weltkriegs mussten etwa 14 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten flüchten oder wurden vertrieben und suchten in den Besatzungszonen eine neue Bleibe. Kirchseeon erfuhr damals in wenigen Jahren durch die Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland, Schlesien und Ostpreußen einen Einwohnerzuwachs von rund 25% (siehe im pdf S. 85).

Ein prozentualer Bevölkerungszuwachs wie damals käme auf Kirchseeon zu, wenn die Absicht der ECE-Firmengruppe, einem Immobilienentwickler der Hamburger Familie Otto, umgesetzt würde. Wie der "Oberbayer" zum Jahresende berichtet hatte, möchte dieser Investor die Altlasten des Kirchseeoner IVECO-Geländes sanieren, das Industriegelände "revitalisieren" und auf dem 16 Hektar großen Gelände (zzgl. 4 Hektar, die das Bundeseisenbahnvermögen der Gemeinde zum Kauf angeboten hat) eine umfangreiche Wohnbebauung errichten.

Ende Januar konnte vom Verfasser dieser Zeilen auf der Rechtsgrundlage des Bayerischen Umweltinformationsgesetzes im Landratsamt Ebersberg erstmals Einsicht in den "Masterplan" von "ECE Work & Live" für das "Quartier Mitte" - so lautet der Projektname - genommen werden. ECE beschreibt in dem Exposé die Errichtung zahlreicher mehrstöckiger Wohnblöcke und von Reihenhäusern. Insgesamt sollen 100.000 qm Wohnfläche in 3 Bauabschnitten errichtet werden, 1500 Wohnungen sollen entstehen.

Was bedeuten diese Zahlen für Kirchseeon? Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beträgt die durchschnittliche Mietwohnfläche pro Person rund 36 qm. Auf Kirchseeon kämen demnach bei 100.000 qm Neubau-Wohnfläche 2500-3000 Neubürger zu, ein Bevölkerungszuwachs von rund 25%. Der Wohnflächenzuwachs entspricht - gemessen an den derzeit vorhandenen rund 400.000 qm - etwa dem gleichen Prozentsatz. Und in den letzten Jahrzehnten entstanden in Kirchseeon im Jahresschnitt 30-40 Wohnungen; 1500 neue Wohnungen würden selbst bei einer Streckung über mehrere Jahrzehnte zu erheblichen Verwerfungen auf dem engen Kirchseeoner Immobilien- und Mietmarkt führen.

Mit schönen Worten wie Nahwärmeversorgung, Solaranlagen, ein neues Rathaus oder ein neues Feuerwehrhaus, einer Einkaufszeile am "Roten Turm" soll den Gemeinderäten eine Zustimmung entlockt werden. Doch eine relevante gewerbliche Nutzung, wie sie zur Aufbesserung der desolaten Kirchseeoner Finanzen eigentlich dringend notwendig wäre, ist nicht vorgesehen.

Solche "Schlafstädte" waren bis in die 1970er Jahre das dominierende städtebauliche Konzept, um den rasch wachsenden Wohnflächenbedarf der Nachkriegs-und Wirtschaftswunderzeit zu decken. Der Zornedinger Daxenberg ist ein negatives Beispiel für solche "Wohnghettos" und die daraus resultierenden sozialen Konflikte zwischen Alt- und Neubürgern. Heute werden die Trennung von Wohnen und Arbeiten aus städtebaulicher Sicht negativ gesehen und kurze Wege vom und zum Arbeitsplatz angestrebt, auch aus ökologischen und Klimaschutz-Gründen.

Das im Exposé vorgeschlagene Bebauungskonzept, das eine höhere Bebauungsdichte als am Daxenberg vorsieht, kommt - wenig überraschend - vor allem den wirtschaftlichen Interessen des Investors entgegen. Denn Planung, Bau und Vermarktung von Mischnutzungen sind mühsamer und weniger profitabel als von reinen Wohngebieten. Und die Gewinne für den Investor dürften bei einem Projektvolumen, das man auf der Basis derzeitiger Grundstücks- und Wohnbaupreise auf mehr als 1 Mrd. EUR abschätzen kann, durchaus mehrere 100 Mio. EUR erreichen. Bereits durch die bauplanerische Umwidmung eines Industriegebiets in ein Wohn-, urbanes oder Mischgebiet ergäben sich für den Grundstückseigentümer Wertgewinne in 9-stelliger Millionenhöhe.

Gerne hätten wir für die Leser des "Oberbayer" an dieser Stelle die im ECE-Exposé enthaltene Projektskizze abgedruckt. Doch als das Landratsamt um eine Kopie gebeten wurde, untersagte ECE dem Landratsamt mit Berufung auf seine Urheberrechte die Anfertigung von Kopien. Und weil angeblich noch keine Erstveröffentlichung erfolgt wäre, dürfe das Landratsamt auch keine weitere Einsicht gewähren.

"Gemauert" wird auch im Kirchseeoner Rathaus. Das ECE-"Entwicklungskonzept" hatte der damalige "Geschäftsleiter" Stephan Neu im Juni 2021 als "streng vertraulich, nur für den Dienstgebrauch" zur Vorbereitung einer Besprechung an das Landratsamt übersandt – als ob "die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder" gefährdet wären. Seitdem folgt eine nichtöffentliche Gemeinderatssitzung der nächsten. Bürgermeister Jan Paeplow verweigert die Einsicht in Verkehrs- und Lärmgutachten und die Bürger will er erst dann informieren, wenn die Pläne schon fix sind. Ist ein solch eigenartiges Verständnis seines Wahlversprechens im "kirchseeonplan" für Transparenz und Bürgerbeteiligung womöglich ein Relikt seiner Sozialisation im Unrechtsstaat DDR - oder wurden und werden die Wähler gar vorsätzlich belogen, handelt es sich schlicht und einfach um Wählerbetrug?

Nachdem Paeplow – anders als die Bürgermeister vieler Nachbargemeinden - in den letzten beiden Jahren keine Bürgerversammlung abgehalten hat, verspricht er diese nun für das "Frühjahr 2022". Ob das diesmal wahr ist, wird sich zeigen. Ob dann dort auch die von Paeplow und dem Gemeinderat bisher unterdrückte öffentliche Diskussion darüber stattfindet, ob das, was dem Investor nutzt, auch der gesamten Gemeinde dient oder dieser vor allem die Folgelasten aufgebürdet werden, bleibt offen.

Eine "Erörterung gemeindlicher Angelegenheiten" müsste aber innerhalb von 3 Monaten stattfinden, wenn dies "2,5 v.H. der Gemeindebürger unter Angabe der Tagesordnung" schriftlich beantragen (Art. 18 Abs. 2 Bayerische Gemeindeordnung).

Nachträge vom 07.04.2022:

1. Alle Anteile der Fa. EFFE Grundbesitzgesellschaft mbH, AG Ulm, HR B 1126, dem Eigentümer des IVECO-Geländes, wurden im Januar/Februar 2022 an die Fa. ECE Group GmbH & Co. KG mit Sitz in Hamburg verkauft.

2. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege teilte am 23.03.2022 mit, dass der "Rote Turm" durch den langen Leerstand substanzielle Schäden aufweist. Im Auftrag der ehemaligen Eigentümer wurde daher bereits im Sommer 2021 ein statisches Gutachten erstellt, welches zwar grundsätzlichen Instandsetzungsbedarf ermittelte, aber keinen Anlass für Notsicherungen oder statische Bedenken feststellen konnte.

3. Zwar wurde inzwischen eine Bürgerversammlung für Ende April anberaumt, doch in der Tagesordnung steht nichts von einer Information und Diskussion über das IVECO-Gelände...


Dieser Artikel ist eine fortgeschriebene Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft April 2022, erschienenen Erstversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm

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