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Juni 2022


Brennerzulauf - wie geht‘s weiter? (Teil 2)

Im ersten Teil dieses Beitrags in der Februar-Ausgabe des "Oberbayer" war anhand der Trassierungsvorschriften der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung die Länge des zwischen Grafing Bhf. und Kirchseeon vorgesehenen Überwerfungsbauwerks auf 1-1,5 km abgeschätzt worden. Zugleich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass eine Aufweitung der Kurvenradien für eine Durchfahrtgeschwindigkeit von 230 km/h umfangreiche Hangabgrabungen zur Folge hätte.

Die von der DB Netz AG im April veröffentlichten Pläne für den Abschnitt Grafing – Kirchseeon bestätigten diese Einschätzungen. Das Überwerfungsbauwerk soll auf der Höhe der ehemaligen Pöttinger Brücke entstehen. Ob das ca. 600 m lange, zweigleisige Bauwerk mit angrenzenden ca. 500 m (westlich) bzw. 1 km (östlich) langen Rampen mit bis zu 6-7 m hohen Stützwänden als allseitig geschlossener Tunnel oder als Galerie ausgeführt werden, hat die DB Netz AG bisher offen gelassen.

Überall dort, wo die Neubaugleise aufgrund ihrer größeren Kurvenradien die engen Kurven der Bestandsstrecke "abschneiden", würde sich die Trasse unter Abgraben der Hänge auf der Südseite auf über 60 Meter aufweiten. Das wäre immerhin die Breite von zwei vierspurigen Autobahnen mit Standspur und Mittelstreifen! Dazwischen wäre "Niemandsland", eine landschaftlich und ökologisch entwertete Fläche, die frei von höherem Bewuchs gehalten wird. Aufgrund der hohen Lärm- und Erschütterungsbelastung und der zur Bekämpfung der Vegetation entlang der Gleise periodisch eingesetzten Pestizide wie Glyphosat werden solche Flächen von Vögeln und anderen höheren Tieren nicht als Habitat angenommen.

Dazu kommen beidseits Streifen von 50 Meter Breite, die zum Schutz des Schienenverkehrs von den Eigentümern schon aus Haftungsgründen praktisch frei von höherem Baumbewuchs zu halten sind, der umsturzgefährdet ist, § 24 Allgemeines Eisenbahngesetz. Die durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften im Eisenbahnbereich vom Juni 2021 neu eingeführte Verpflichtung zur Einrichtung solcher Schutzstreifen wurde einseitig den privaten Waldeigentümern aufgebürdet und der privatwirtschaftlichen DB Netz AG sogar polizeiähnliche Rechte zur Durchsetzung gegen die privaten Grundbesitzer zugebilligt. Der massive Protest der privaten Waldbesitzer, des Bundes Deutscher Forstleute, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e.V. gegen dieses "wie aus der Zeit gefallenen" Gesetzes von Scheuer war ebenso vergeblich wie der von NABU und DNR.

Gleichzeitig regelt dieses Gesetz, dass ein Streifen von 6 Metern beidseits der Gleise rechtlich nicht mehr als Wald anzusehen ist. Das bedeutet, dass für diese Flächen das Aufforstungsgebot des Bundeswaldgesetzes nicht mehr gilt. Bei 21.700 km Bahnstrecken in Deutschland, die ein- oder beidseitig Baumbestand aufweisen, die DB Netz AG zu ermächtigen, wurden mit der Unterschrift des Bundespräsidenten Steinmeier unter dieses Gesetz virtuell über 250 Quadratkilometer Wald entwidmet und auf rund 1% der Fläche Deutschlands das Schicksal aller höheren Bäume in den beidseitigen 50 Meter-Streifen besiegelt.

Der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Erding-Ebersberg, Dr. Andreas Lenz, war in der vergangenen Legislaturperiode Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Dieser Beirat bewertete die gravierenden Eingriffe in den bundesdeutschen Waldbestand in seinem Gutachten zu diesem Gesetz (siehe S. 10 der BT-Drs. 19/28828) als angeblich nachhaltig. Bejahte man die These dieses Beirats, wonach alles, was der Förderung der Eisenbahn dient, nachhaltig wäre, dann müsste auch die Anwendung von Glyphosat zur Bewuchsbekämpfung an Gleisanlagen als nachhaltig anzusehen sein, denn auch das dient der Sicherung und damit der Förderung des Eisenbahnverkehrs....

Neben Autobahnen, Bundes- und Landstraßen gibt es keine solchen Schneisen, da dürfen Bäume bis auf wenige Meter neben der Straße weiterhin wachsen. Nicht nur entlang der Strecke München-Rosenheim findet man schon vielfach die breiten Kahlschläge, die der Bund Deutscher Forstleute in seiner Stellungnahme befürchtete. Könnte es sein, dass der Begriff "nachhaltig" inzwischen genauso pervertiert und sinnentleert ist wie der Begriff "umweltfreundlich", weil sich beide für die Durchsetzung jeder noch so unsinnigen Maßnahme mißbrauchen lassen?

Kahlschlag zwischen Grafing Bhf. und Oberelkofen
Kahlschlag entlang der Bahnstrecke zwischen Grafing Bahnhof und Oberelkofen

Besonders viel Landschaft will die DB Netz AG in Grafing Bahnhof verbrauchen. Dort soll zwischen den Neubau- und Bestandsgleisen ein rund 1 km langes und bis 25 m breites "Niemandsland" entstehen. Es scheint, dass das Interesse an einem sparsamen Umgang mit Landschaft bei den Planern der DB Netz AG nicht besonders ausgeprägt ist ... Selbst vor dem Verlegen von zwei Bächen im ökologisch sensiblen Bereich bei Pötting schrecken sie nicht zurück.

Während ansonsten in der Gemeinde Kirchseeon und im Landkreis bei jedem Baum, der der Erweiterung einer Einrichtung zu beruflichen Weiterbildung im Wege steht oder zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit geopfert werden soll, ein Aufschrei durch alle von der Farbe Grün Bewegten geht (zuletzt bei den Aufregerthemen Eiche bei Nettelkofen und Bäume des BFW Kirchseeon), hört man vom gleichen Personenkreis zu den massiven Eingriffen der DB Netz AG in Natur und Landschaft zwischen Kirchseeon und Grafing Bahnhof bisher nur "beredtes Schweigen".

Schon beim "Bau besonderer S-Bahn-Gleise" in den 1990er Jahren war dies nicht anders – von den schweren Eingriffen und der Zerstörung vieler wertvoller Biotope hat sich die Landschaft zwischen Kirchseeon und Grafing bis heute nicht erholt, zumal die Ausgleichsflächen größtenteils auch noch weit außerhalb des Gemeindegebiets waren.

Wen wundert‘s daher, dass die DB Netz AG bevorzugt solche "kooperativen" Gesprächspartner wie den Bund Naturschutz Bayern, der sich ja schon in Sachen Windkraft als Gegner des Natur- und Landschaftsschutzes "profiliert" hat, einlädt? Dazu kommen noch Bahnlobbyisten wie Pro Bahn oder der VCD. "Kritiker" und eisenbahntechnischer Sachverstand werden hingegen von der DB Netz AG ausgesperrt. Fehlender eisenbahn(betriebs)technischen Sachverstand offenbarte sich daher in der Unbedarftheit zahlreicher Fragen, die aus dem Landkreis bei dessen "Boykottaktion" im Februar an die DB Netz AG gerichtet wurden und ihr die Antworten leicht machte.

Im Landkreis Rosenheim hingegen musste die DB Netz AG auf Druck der Bevölkerung und der Gemeinden auch ihr kritisch gegenüberstehende Personen einladen. Ist das eine der Erklärungen dafür, weshalb für die NBS im Landkreis Rosenheim 5-10 Mrd. EUR veranschlagt werden, diese im Landkreis Ebersberg hingegen nur "Peanuts" kosten wird, was bereits jetzt absehbar ist?

Nicht nur der Schutz der Landschaft, auch der Lärmschutz hat bei den Bahnplanern offenbar keine Priorität. Denn mit geringen Mehrkosten ließe sich durch eine fast durchwegs mögliche Verlegung der Bestandsgleise an die Neubaugleise nicht nur der Landschaftsverbrauch zwischen Grafing Bahnhof und Kirchseeon deutlich reduzieren, sondern auch Verbesserungen beim Lärmschutz erreichen. Für viele Gebäude im Moos wäre eine weitere Lärmminderung durch eine möglichst weite Verlagerung des Überwerfungsbauwerks nach Westen und eine Ausführung als geschlossener Tunnel möglich.

Und gerade beim Lärmschutz besteht Handlungsbedarf, weil beim "Bau besonderer S-Bahn-Gleise" in den 1990er Jahren wegen der damals baurechtlich noch nicht gesicherten Wohnbebauung (Stichwort "Schwarzbauten" im Moos) kaum Schutzansprüche bestanden. Zwar entsteht nun durch den Bau zweier zusätzlicher Gleise für weite Teile des Kirchseeoner Mooses ein gesetzlicher Anspruch auf Lärmvorsorge. Doch ob daraus auch zusätzliche aktive Lärmschutzmaßnahmen resultieren, ist fraglich. Denn die meisten Gebäude liegen im Außenbereich und dort bestehen geringere Schutzziele. Doch statt konstruktiver Vorschläge hört man aus dem AK Bahnlärm Kirchseeon nur Fundamentalopposition.

Was aber sind die Überlegungen der DB Netz AG, die Kurven der Neubaugleise zwischen Kirchseeon und Grafing Bhf. auf 230 km/h Durchfahrtsgeschwindigkeit auszulegen, wenn die Züge im Ortsbereich Kirchseeon wegen der engen Kurvenradien dort nur mit 140 km/h fahren können – und auch nicht so schnell auf 230 km/h beschleunigen können?

Die DB Netz AG und auch die Landes- und Bundespolitik behaupten, dass trotz der Einführung des elektronischen Zugsteuersystems ETCS bis 2030 ("Starterpaket Digitale Schiene") die Höchstgeschwindigkeit zwischen Trudering und Kirchseeon weiterhin nur 160 km/h betragen soll. Sie drückt sich aber vor konkreten Aussagen zum Lärmschutz. Das Bayerische Verkehrsministerium (StMB) hingegen äußert sich deutlicher: "Vom Bund gibt es nach wie vor keine Zusage, dass mit der geplanten Kapazitätssteigerung auf der Bestandsstrecke durch ETCS-Einbau Lärmschutz nach Neubaustandard, also Lärmvorsorge, einhergehen wird. Das BMDV verweist auf die Rechtslage, wonach die ETCS-Ausrüstung keine wesentliche Veränderung der Schienenwege darstelle und daher keinen Anspruch auf Lärmvorsorge auslöse. Der Staatsregierung ist bewusst, dass es für die Anwohnerschaft im Ergebnis jedoch keinen Unterschied macht, durch welche technische Maßnahmen höhere Zugzahlen und mehr Lärm entstehen. Das StMB fordert deshalb gegenüber Bund und DB immer wieder auf allen Ebenen, dass Lärmvorsorgemaßnahmen entsprechend den gesetzlichen Regelungen für den Neubau oder einer wesentlichen Änderung von Schienenwegen vorgesehen werden sollen."

Um eine konkrete Antwort auf die Frage, ob die Forderung der Anwohner auf "Lärmschutz nach Neubaustandard" im Abschnitt Grafing-Trudering dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt werden würde, drückt sich das StMB: "Die Deutsche Bahn bzw. das Bundesverkehrsministerium entscheiden, wie sie im Rahmen der parlamentarischen Befassung dem Bundestag berichten."

Im Dezember hat die EU-Kommission den Verordnungsvorschlag COM(2021) 812 über Leitlinien zum Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes veröffentlicht. Der Bundesrat hat diese bereits gebilligt. Das Kernnetz soll demnach bis 2030, das erweiterte Kernnetz bis 2040 und das Gesamtnetz bis 2050 realisiert werden. Wie in der Abbildung ganz oben zu sehen ist, hält die EU zwischen Trudering und Grafing abschnittsweise mindestens Tempo 200 für erforderlich.

Durch die Bildung von Zwangspunkten in Trudering und Kirchseeon hat die DB Netz AG bereits eine Vorentscheidung über das Wie des weiteren Ausbaus getroffen - nämlich einen höhengleichen Ausbau neben der Bestandsstrecke. Schon im Ortsbereich Kirchseeon würde nämlich eine Tieferlegung oder Tunnelführung mit der langfristig laufenden Reinigung der kontaminierten Grundwässer des ehemaligen Schwellenwerks in Konflikt geraten: ein Auf- und Rückstau der kontaminierten Grundwässer könnte die Kirchseeoner Brunnen gefährden. Und in Vaterstetten wäre eine Unterquerung des tiefliegenden Autobahnrings von den zulässigen Steigungen her zwar möglich, aber bautechnisch würde die Erstellung eines Tunnels unmittelbar neben oder gar unterhalb der Bestandsgleise "unter dem rollenden Rad" unkalkulierbare Risiken bergen. Beim Einsturz der von einer Tunnelbohrmaschine gegrabenen Querung der Oberrheintalbahn in Rastatt vor drei Jahren realisierte sich dieses Risiko - die Folge war eine lange Totalsperrung der Strecke.

Liegen die Pläne für Geschwindigkeitserhöhungen und einen sechsgleisigen oberirdischen Ausbau zwischen Kirchseeon und Trudering womöglich bereits in den Schubladen und will "die Politik" keine "schlafenden Hunde" wecken, bevor die Planungen für die Neubaustrecke von Kirchseeon über Rosenheim nach Kiefersfelden zum Abschluss gebracht sind?

Das ist aus der Sicht der DB Netz AG und der "Politik" nachvollziehbar. Denn der Aufschrei wird groß werden, wenn den Betroffenen die Folgen klar werden: ein oberirdischer Ausbau mit vielen Enteignungen und dem Abriss von Wohnhäusern, weil eine Tunnelführung neben oder unter der Bestandsstrecke technisch nicht oder nur extrem aufwändig möglich wäre.



Dieser Artikel ist eine fortgeschriebene Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft Juni 2022, erschienenen Erstversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm

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