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August 2021
Stationäre Heimplätze im Landkreis Ebersberg - Stand 2016
Auszug aus dem Sozialbericht 2019 des Landkreises Ebersberg (Vollbild durch Klicken auf die Grafik)

Vom Wert des Lebens

Heute erinnert fast nichts mehr an die zahlreichen frischen Gräber auf den Kirchseeoner Friedhöfen, die im Januar dieses Jahres ein öffentlich sichtbares Zeugnis vom vielfachen Tod im AWO-Seniorenzentrum Kirchseeon ablegten. Nach Auskunft des Landratsamts starben dort 24 Bewohner "in Zusammenhang mit Corona". Die AWO selbst verweigerte mit Verweis auf "Persönlichkeitsrechte" alle Angaben zu Infizierten- und Todeszahlen. Rund um Weihnachten war die Zahl der Infizierten explodiert, 2-3 Wochen später waren der Pandemie dann so viele Menschen in so kurzer Zeit wie noch nie in der Kirchseeoner Geschichte erlegen, nicht mal während der beiden Weltkriege.

Erst durch die seit dem Jahreswechsel durchgeführten Impfungen konnte dem Sterben in den Seniorenheimen im Landkreis endlich Einhalt geboten werden. Drei Viertel aller Coronatoten im Landkreis lebten in einem Seniorenheim. Im Landkreisdurchschnitt starb jeder 10. Bewohner eines Seniorenheims, im AWO-Seniorenzentrum in Kirchseeon starb rund jeder 5. Bewohner.

Stationäre Heimplätze im Landkreis Ebersberg - Stand 2018


Corona-Todesfälle im Landkreis, gegliedert nach Sterbeort und letztem Wohnort (Stand 22.02.2021)
Corona-Todesfälle im Landkreis, gegliedert nach Sterbeort und letztem Wohnort - Stand 22.2.2021

Corona-Todesfälle nach Gemeinden - Stand 15.3.2021


Wie konnte das geschehen und wurde wirklich alles getan, um diese Katastrophe in den Seniorenheimen zu verhindern oder zumindest zu mildern?

Einen ersten Versuch der Aufarbeitung des Geschehenen machte der Kreistag im Frühjahr 2021. Nachdem von Mitte bis Ende Januar im AWO-Seniorenzentrum in Markt Schwaben 19 Bewohner an Corona verstorben waren, wurde im Kreistag beantragt, dass der Landrat einen ganzen Katalog an Fragen zum Ablauf und zu den vom Heimbetreiber und vom Gesundheitsamt durchgeführten Maßnahmen beantworten solle. Ende Februar und Ende April gab der Landrat dem Kreis- und Strategieausschuss Antworten auf die Fragen. Seinen Darstellungen zufolge soll das tragische Geschehen und der Tod der Menschen in Markt Schwaben angeblich schicksalshaft gewesen sein.

Im Kreistag blieben verständlicherweise Zweifel, denn es wurde vom Landrat nicht erklärt, weshalb zweimal wöchentliche PCR-Tests an allen, auch symptomlosen Heimbewohnern erst ab dem 18. Januar durch die am 14. Januar vom Landratsamt erlassene Allgemeinverfügung verpflichtend wurden und nicht schon vorher. Denn die Infektionszahlen waren schon seit Anfang November stark angestiegen und es hatte bereits schwere Corona-Ausbrüche in bayerischen Seniorenheimen gegeben.

In ihrer Nationalen Teststrategie hatte die Bundesregierung schon frühzeitig Tests auch ohne aufgetretene Infektion vorgesehen und die Kosten dafür übernommen. Ab Mitte Oktober hätten die Heimbetreiber gemäß der Corona-Testverordnung in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt ein Testkonzept entwickeln können, bei dem pro Bewohner zunächst 20 PoC-Antigen-Tests, ab 2. Dezember sogar 30 PoC-Antigen-Tests pro Monat eingesetzt werden konnten und diese von den Pflegekassen vergütet wurden. Eine Verpflichtung dazu bestand aber nach der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung nicht, und da das Personal durch die allgemeinen Hygienemaßnahmen ohnedies schon am Limit war, wurden die angebotenen Testmöglichkeiten ersichtlich nicht ausgeschöpft.

Aber warum wurde dann nicht stärker versucht, Ehrenamtliche und andere Freiwillige aus dem Landkreis und den Gemeinden für eine Unterstützung beim Testen der rund 1200 Seniorenheimbewohner zu gewinnen?

Darauf findet man in den Stellungnahmen des Landrats an den Kreistag leider keine Antwort. Könnte es sein, dass das Landratsamt, zumal die Leiterin des Corona-Krisenstabs und stv. Landrätin im Amt und "nebenbei" Kämmerin des Landratsamts, Frau Brigitte Keller, im Spätherbst 2020 wegen der zahllosen Energiewendeaktivitäten mit der Prioritätensetzung überfordert war? Oder noch deutlicher: widmete die Landratsamtsspitze den freiwilligen Aufgaben und der Debatte um die Windkraft im Ebersberger Forst zuviel Aufmerksamkeit und wurde sie dann Anfang Januar von einer Welle an Todesfällen überrascht, auf die man fast panikartig mit der Allgemeinverfügung vom 14. Januar 2021 und darin angeordneten, verpflichtenden, zweimal wöchentlichen PCR-Tests reagierte?

Der Marktgemeinderat Kirchseeon hingegen hielt bis zum heutigen Tag den Tod von 24 Senioren im örtlichen AWO-Seniorenheim nicht für wert, sich damit zu beschäftigen. Und dies, obwohl die "örtliche Gesundheitspflege" eine Pflichtaufgabe der Gemeinde ist, die auch im ausgerufenen Katastrophenfall eigenständig neben und ergänzend zu den staatlichen Maßnahmen zu erfüllen ist, wie das Bayerische Innenministerium auf Anfrage bestätigte.

Auch hielt man es im Kirchseeoner Rathaus nicht für angebracht, die Seniorenbeauftragte, die grüne Gemeinderätin Natalie Katholing, die zugleich Bewohnerfürsprecherin im AWO-Seniorenzentrum ist und "sich für die Interessen und Belange aller Bewohner*innen in der Einrichtung" einsetzen will, aufzufordern, dem Marktgemeinderat zu berichten, wie es dazu kommen konnte, dass die Senioren reihenweise starben.

Verdrängen war auch die Devise von Bürgermeister Jan Paeplow. Von Anfang November an verschleppte er monatelang eine Petition an den Marktgemeinderat, die zum Ziel hatte, dem AWO-Seniorenzentrum Unterstützung bei den Tests anzubieten. Als sich der Marktgemeinderat dann endlich Ende Januar damit befasste, waren die 24 Senioren schon tot.

Ist es daher abwegig, beim Bürgermeister wegen seiner Untätigkeit bei einer gemeindlichen Pflichtaufgabe und wegen des Verschleppens der Petition eine Mitverantwortung für den Tod der Senioren zu sehen? Es überrascht nicht, dass Jan Paeplow das anders sieht. Mehr erstaunt, dass er als geborener DDR-Bürger versucht, unliebsame Kritik an seiner Amtsführung durch Drohungen mit strafrechtlichen Schritten zum Schweigen zu bringen.

Für die 24 Verstorbenen in seiner Gemeinde und die Angehörigen fand Bürgermeister Paeplow aber bisher keine Worte des Mitleids oder des Gedenkens. Die Gleichgültigkeit im Kirchseeoner Rathaus erschreckt zutiefst.


Dieser Artikel ist eine fortgeschriebene Fassung der in der Zeitschrift "Der Oberbayer", Heft August 2021, erschienenen Erstversion. Artikel mit lokalem Bezug aus dieser Zeitschrift werden mit ein paar Wochen Verzögerung an dieser Stelle abgedruckt. Den Beitrag in der aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Seite http://www.kirchseeon-intern.de/der-oberbayer.htm


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